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Pflichtteil-Konstellation: „Lieblingskind“

Rechtsanwalt Wolfgang Odoj LL.M.    |    4. Oktober 2018    |    überarbeitet 2. Januar 2023 

In der Pflichtteil-Konstellation „Lieblingskind“ werden einzelne Kinder im Vergleich zu ihren (Halb-)Geschwistern bevorzugt behandelt.

Häufig erhalten Lieblingskinder bereits zu Lebzeiten des Erblassers größere Zuwendungen. Meistens setzt der Erblasser das Lieblingskind dann auch noch zu seinem Alleinerben ein.
Den anderen Kindern verbleibt schließlich nur noch der Pflichtteil.

Immobilie zu Lebzeiten auf das Lieblingskind übertragen

Beispiel:
Die Witwe Erika Müller bestimmt ihre Tochter Andrea in ihrem Testament zur Alleinerbin. Ihren Sohn Martin berücksichtigt sie nicht.
An Nachlass ist neben wertlosem Hausrat nur noch Bankguthaben in Höhe von 10.000,- Euro vorhanden.
Ihr Wohnhaus hatte die Erblasserin Ihrer Tochter Andrea nämlich bereits 12 Jahre vor ihrem Tod übertragen. Bei der Immobilienübertragung hat sie sich allerdings ein vollumfängliches Wohnungsrecht vorbehalten.

Ergebnis:
Sohn Martin hat Pflichtteilsansprüche aus dem vorhandenen Nachlass.
Zusätzlich führen Schenkungen der Mutter an seine Schwester zu Pflichtteilsergänzungsansprüchen.

Obwohl die Übertragung des Wohnhauses schon länger zurückliegt, greift die 10-jährige Ausschlussfrist des § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB nicht! Denn die Frist beginnt aufgrund des Wohnungsrechts nicht zu laufen. Der Wohnungsrechtsvorbehalt wirkt hier also zu Martins Gunsten.

Immobilienwert zu zwei Stichtagen ermitteln

Daher hat Martin Anspruch darauf, dass eine Wertermittlung der an seine Schwester übertragenen Immobilie zu zwei Stichtagen stattfindet:

  1. zum Zeitpunkt der Eigentumsübertragung und
  2. zum Zeitpunkt des Todes der Mutter.

Bei der anschließenden Berechnung der sich aus der Immobilienübertragung ergebenden Pflichtteilsergänzungsansprüche ist die Rechtsprechung des BGH zu berücksichtigen.

Niederstwertprinzip beachten

Dabei findet ein Vergleich der beiden Immobilienwerte statt.
Nach dem Niederstwertprinzip des § 2325 Abs. 2 S. 2 BGB wird der niedrigere der beiden Werte für die Berechnung der Pflichtteilsergänzungsansprüche herangezogen.
Nur für den Fall, dass der Wert zum Überlassungszeitpunkt der niedrigere ist, wird der kapitalisierte Wert des Wohnungsrechts in Abzug gebracht. Ansonsten bleibt das Wohnungsrecht bei der Berechnung unberücksichtigt.

Inflationsausgleich

Nicht vergessen werden darf außerdem, dass sämtliche Schenkungen um den Kaufkraftschwund (Inflation) zu bereinigen, d.h. wertmäßig zu erhöhen, sind.
Dies wirkt in der Regel ebenfalls zu Gunsten des Pflichtteilsberechtigten.

Fazit:
Neben dem ordentlichen Pflichtteil können zusätzlich Pflichtteilsergänzungsansprüche bestehen, wenn pflichtteilsergänzungsrelevante lebzeitige Schenkungen stattgefunden haben.